Wir packen’s an in Calais

Mit einem perfekt gepackten Transporter (jeder Zentimeter wurde genutzt), geht es morgens um 5 Uhr los zu den Hilfsorganisationen Refugee Women’s Center und Collective Aid in Calais. 13 Stunden Autofahrt, zwei Grenzübergänge, unglaublich viel Verkehr und endlich sind wir an unserem Hostel in der französischen Hafenstadt angekommen.

Menschenleer, super sauber und idyllisch liegt der Strand vor unserer Cordi. Später berichtet sie uns, dass sie nicht ohne Bilder der nächtlichen, gefährlichen Überquerungen im Kopf auf das Meer blicken konnte. Der Kontrast könnte nicht größer sein.

Am nächsten Morgen sind wir am Warehouse unserer beiden Partnerorganisationen verabredet. Die Helfer:innen begrüßen uns herzlich und packen sofort mit an. Zack ist unser Transporter ausgeräumt! Die Freude über unsere Hilfsgüter und die Zusammenarbeit ist groß. Auch hier hat sich die Situation der Spenden aufgrund des Krieges in der Ukraine verschlechtert.

Wir lernen die Arbeitsabläufe und viele Volunteers kennen. „Es sind so unglaublich engagierte und sympathische Menschen. Sie sind sehr organisiert, strukturiert, reflektiert und achtsam. Überall gibt’s Tafeln mit Erklärungen, warum was wie gemacht wird und über allem schwebt die Energie der grenzenlosen Solidarität.“ Unsere Cordi ist sehr berührt.

Die momentane Situation in Calais sieht so aus: Seit dem schrecklichen Vertrag zwischen England und Ruanda Mitte April herrscht große Verwirrung und Verunsicherung bei den Geflüchteten und in den letzten Wochen haben mehrere hundert Menschen versucht noch schnell rüber nach England zu kommen. Momentan befinden sich etwa 1.500 Geflüchtete in Calais. Im März waren es noch etwa 2.000. Die meisten sind mit dem Boot über den Ärmelkanal gekommen, die schmalste Stelle beträgt 36 km. Es gibt aber auch viele Versuche auf einen LKW zu springen, um so aus Calais raus zu kommen. Dabei sind in den vergangenen fünf Monaten sieben Menschen gestorben. 

Die Polizei hat die sogenannten Dschungel (größere Camps von hunderten Menschen) komplett zerstört. Es gibt jetzt sehr viele kleine, sogenannte Fields, in denen die Menschen ausharren. Diese Fields sind größtenteils einfach Büsche am Straßenrand oder auf Brachflächen. Es gibt Fields mit Geflüchteten aus Eritrea, Äthiopien, Kurdistan, Sudan, Iran, Irak und es gibt auch eine kleine vietnamesische Community. Oft können etwa zwanzig bis fünfzig Menschen zusammen sein.

Die Schutzsuchenden erfahren teilweise täglich Polizeigewalt: Die Beamt:innen zerstören mehrmals die Woche ihre Zelte und nehmen ihnen ihre Sachen weg. Deswegen werden dringend Schuhe, Zelte, Schlafsäcke, Kocher und andere Utensilien gebraucht. Die Polizei versucht diese Fields „unlebbar“ zu machen. Sie fällen Bäume, kürzen die Büsche, fahren mit Jeeps auf das Gelände und zerstören den Untergrund. Außerdem türmt die Polizei hohe Schuttberge auf den Fields auf, sodass die helfenden Organisationen nicht in der Lage sind die Geflüchteten zu versorgen.

Bei den NGOs herrscht große Hilflosigkeit. Aufgrund des Brexits und den zwei Jahren Pandemie kommen kaum noch Spenden in Calais an. Mae vom Refugee Women‘s Center berichtet von einem winzigen Lichtblick: Sie haben es in letzter Zeit geschafft, dass einige wenige Frauen in Privathaushalten aufgenommen werden konnten.

Später kann unsere Cordi die Freiwilligen von Collective Aid bei ihrem Einsatz im eritreischen Field begleiten. Dort bauen sie jeden Samstag eine mobile Ladestation auf. Sie wird von einem Generator betrieben und ermöglicht den Geflüchteten, an den angeschlossenen Mehrfachsteckern ihre Handys zu laden.

Es dauert nicht lange, da werden wir von den Menschen zum gemeinsamen Teetrinken eingeladen. Mitten im Nichts gibt es eine kleine Feuerstelle, auf der sie Tee kochen. Wir sitzen alle im Kreis und versuchen uns mit Händen und Füßen und ein paar Wörtern Englisch zu unterhalten. Die Stimmung ist warmherzig. Einer aus der Runde läuft zur Ladestation und holt sein Handy, um uns seinen Lieblingssänger aus Eritrea zu zeigen.

Es kommen immer mehr Personen hinzu und wir hören viele verschiedene Fluchtgeschichten. Manche von ihnen sind schon seit Jahren auf der Flucht, andere wiederum erst seit ein paar Wochen. Nach allem, was sie bisher auf ihrer Flucht erlebt haben, und mit der großen Unwissenheit, was sie in England erwarten wird, haben alle eine Gemeinsamkeit: Diese unzerstörbare Hoffnung auf ein besseres Leben!

Schweren Herzens geht es zurück zur Lagerhalle. Es entsteht ein tiefes und bewegendes Gespräch über Hilfe, Hoffnung, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und dem Umgang mit Privilegien. Unsere Cordi ist dankbar für diesen Austausch und auch für die ganz besonderen Begegnungen an diesen Tagen.