In Pakistan gab es letzten Sommer vier Monate lang schwere Überschwemmungen. Mehr als 1.000 Tote waren zu beklagen, Millionen Menschen verloren ihre eh schon prekäre Lebensgrundlagen. Die Expert:innen sind sich einig: Ohne Klimawandel wäre die Flutkatastrophe in Pakistan zumindest nicht so verheerend ausgefallen. Nicht anders sieht es in vielen Teilen des globalen Südens aus. Aus Ostafrika wird von der längsten Dürre seit Menschheitsgedenken gesprochen, im Irak nehmen Sandstürme rasant zu und verwüsten ganze Landstriche. Brechen nun die Lebensgrundlagen weg, ist eine Folge Flucht. Und zwar dahin, wo die Lebensgrundlagen noch intakt sind: wie in den wohlhabenden Norden.
Doch wie reagiert der Norden? Menschen aus Pakistan stellen seit Jahren eine große Gruppe an Geflüchteten dar, die aus Deutschland abgeschoben werden, weil ihre Asylbegehren abgelehnt wurde. Viele EU-Außengrenzen sind streng gesichert, in Polen steht eine 4 Meter hohe Mauer zu Belarus, ebenso in Ungarn an der Grenze zu Serbien. Die zehntausenden Toten im Mittelmeer sind sei Jahrzehnten bekannt. Die illegalen Deportationen ohne individuelles Prüfen des Asylbegehrens lassen sich beispielsweise in Griechenland, Polen oder Kroatien nachweisen. Klimawandel als Fluchtgrund ist nicht akzeptiert, Asylanträge dahingehend werden abgelehnt. 80 % der Geflüchteten weltweit stammen aus Ländern, die vom Klimawandel besonders stark betroffen sind, die aber wenig tun können, um die Folgen zu lindern. Darunter sind Länder, die uns aus den Nachrichten als „typische“ Herkunftsgebiete für Geflüchtete gut bekannt sind: Syrien, Venezuela, Afghanistan, Südsudan und Myanmar. „Eine Folge des Klimawandels ist die Verdopplung der Naturkatastrophen innerhalb eines Jahres.“ stellt die Uno fest. Und weiter: „Dabei lösen Naturkatastrophen mehr als dreimal so viele Vertreibungen aus, wie Konflikte und Gewalt.“
Zusammengefasst: Die Auswirkungen des Klimawandels sind am stärksten im globalen Süden festzustellen, der zudem keine Mittel und Ressourcen hat, die Folgen halbwegs zu lindern. Bevölkerungsreiche Länder wie Pakistan oder der Irak haben kaum Anteil an weltweiten Emissionen, sind aber am stärksten mit den Folgen konfrontiert. Machen sich Menschen auf dem Weg, weil sie keine andere Wahl haben, werden sie gequält, teilweise gefoltert und ins Elend zurück deportiert.
Nun sind auch die Folgen des Klimawandels im globalen Norden zu spüren. In Brandenburg werden die Sommer immer trockener, der wärmste Winter aller Zeiten lässt sich gerade feststellen, Waldbrände nahmen letzten Sommer schon apokalyptische Ausmaße an und da war ja auch noch die Flutkatastrophe im Ahrtal… Der Unterschied ist allerdings, dass trotz aller Pannen und Unzulänglichkeiten im Katastrophenschutz ein Land wie Deutschland immer noch Ressourcen hat, um die Folgen der klimabedingten Schäden abzumildern. Hinzu kommt, dass Deutschland, im Gegensatz zu Ländern wie Pakistan oder dem Irak, einer der Hauptverursacher des Klimawandels ist. Das betrifft sowohl den Pro-Kopf-Ausstoß an Emissionen, wie auch den Anteil als Land gerechnet.
Wir erleben also eine Art Kolonialisierung 2.0. Wurden in den letzten Jahrhunderten vorwiegend Bodenschätze im globalen Süden ausgebeutet, Kulturen zerstört und Menschen versklavt, so nimmt die koloniale Zerstörung nun über den Klimawandel seinen Lauf und trifft wieder diejenigen, die nichts dafür können. Wir konsumieren, andere müssen leiden. Setzen Proteste da an, wo es auch mal uns wehtut – und sei es, dass unser Autoweg blockiert ist – werden manche Politiker:innen ziemlich aufgebracht. Parteiübergreifende Kritik an den Aktionen der Letzten Generation bestimmten den Diskurs um die Klimaproteste der letzten Monate. CDU, SPD, FDP und Grüne stimmen überein in ihrer Analyse, dass das Anliegen zwar irgendwie berechtigt wäre, die Aktionsform aber falsch. Und selbst aus den Reihen der Linkspartei kommt Kritik, auch wenn der Vorsitzende Schirdewan verhalten Verständnis äußert. Und nun Lützerath. Aktivist:innen haben sich in den letzten Gebäuden und Bäumen des verlassenen Ortes verbarrikadiert, gehen nicht freiwillig, die Polizei räumt das jetzt zum Braunkohlekonzern RWE gehörende Gelände mit brachialer Gewalt, damit der Braunkohlebagger sein Werk tun kann… und damit wieder Millionen Menschen am Ende der kausalen Klimakette in Not, Elend und Flucht landen.
Wir leben im digitalen Zeitalter, Behauptungen kommen nicht mehr so leicht durch, weil sich im Prinzip alles recherchieren und überprüfen lässt. So lässt sich nachweisen, dass die Grünen in NRW Wahlkampf damit machten, dass Lützerath nicht zerstört wird und so die Millionen Tonnen an klimaschädlicher Braunkohle im Boden bleiben. Ebenso lässt sich widerlegen, dass die Braunkohle unter Lützerath wirklich gebraucht würde, um Energiesicherheit zu gewährleisten wie u.a. führende Grüne wie Wirtschaftsminister Habeck immer wieder behauptet. Ebenso ist es eine Lüge, dass der vorgezogene Kohleausstieg auf 2030 die Emissionen bremsen würde, da der Kohleverbrauch insgesamt nicht reduziert wird, sondern sich wahrscheinlich noch erhöht. Der RWE Konzern macht dabei gut eine geschätzte Milliarde Gewinn (sonst hätten die sich wahrscheinlich auch nicht darauf eingelassen).
Das Vorgehen der Grünen in NRW erinnert uns an das Verhalten der Grünen in Brandenburg beim Abschiebezentrum am BER, auch im Bezug auf Versprechen vor und nach der Wahl. Wiederholt und wiederholt wurde uns beteuert, dass sie jetzt keine Möglichkeit hätten das Vorhaben zu verhindern, aber im „Prinzip“ auch dagegen wären. Wenn ich es nicht tue, machen es andere? Als Regierungspartei gibt es aber immer eine Wahl – und sei es die des Koalitionsbruchs. Es ist mehr die Frage, was gewinnt: Werte oder Machstreben. Für den kleinen Zipfel Macht wird die eigene Seele verkauft, koste es was es wolle.
Oftmals stehen Aktionsformen der Letzten Generation oder der Proteste jetzt in Lützerath in der Kritik. Es gab teils jahrelange Demonstrationen von Fridays for Future mit hunderttausenden Teilnehmer:innen, friedlich und 100 % legal. Nichts hat sich geändert. Es gibt das unterschriebene Pariser Klimaabkommen. Nichts hat sich geändert. Es gibt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2021 über einen nicht verfassungskonformen Haushalt, was den Klimaschutz angeht. Nichts hat sich geändert. Die grüne Partei ist mit vielen Versprechungen in Regierungen im Bund und in vielen Bundesländern gewählt. Nichts hat sich geändert. Es gab sie also die Versuche.
Es ist nicht so, dass tausende Menschen vertrieben werden, wenn wir uns und unseren Lebensstil und unsere Politik nicht ändern. Sie sind bereits auf dem Weg, es werden nur wahnsinnig viel mehr werden. Die Auswirkungen des Klimawandels spüren besonders die Menschen des globalen Südens, auf die wir nun an unseren Grenzen schießen, auch wenn wir für ihre Not eigentlich verantwortlich sind. Wissenschaftler:innen weisen schon lange darauf hin, dass es keinen Spielraum mehr gibt, die Zeit abläuft. Menschen aller Altersgruppen, besonders natürlich junge Menschen, fürchten um ihre Zukunft. Für was setzen sie sich ein? Es geht um nichts weniger als die Lebensgrundlagen unser Welt, es geht auch darum, Fluchtursachen zu beseitigen.
Oder anders ausgedrückt: Wieviel ist uns ein Menschenleben wert?
Stellt euch doch mal vor: Ich vergifte meinen Nachbar:innen die Brunnen, zünde ihre Häuser an, schlage Angehörige tot oder lasse sie verhungern, und ziehe einen Stacheldrahtzaun, damit sie ja nicht um Hilfe betteln können, während ich mir die nächste Süßspeise in den Mund schiebe. Schaffen es doch einzelne Menschen aus der Nachbarschaft über Zäune und Mauern an meine Tür zu klopfen, bringe ich sie umgehend gewaltsam zurück. Irgendwann stellen sich mir Menschen aus meinem eigenen Haus in den Weg und sagen: Wir wollen das das aufhört! Wie reagiere ich? Ich schicke meine Security, lasse sie zusammen schlagen und verklage sie. Wie können die es wagen!
Was wäre eigentlich angemessen? Müsste ich meinen Nachbar:innen nicht auf Knien entgegenrutschen, sie um Verzeihung bitten, Reparationen für die erfolgten Schäden zahlen und sofort das Brunnenvergiften und Häuseranzünden einstellen? Und müsste ich denen nicht dankbar sein, in meinem eigenen Haus, die mich auf den Irrweg hinweisen, anstatt sie zusammen zu prügeln und als illegal zu diffamieren?
Das hat Lützerath mit Flucht zu tun – und mit uns allen!
2 https://www.sueddeutsche.de/wissen/afrika-duerre-klimawandel-1.5554796
4 https://www.bpb.de/themen/migration-integration/zahlen-zu-asyl/265765/abschiebungen-in-deutschland/
5 https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/informieren/fluchtursachen/klimawandel
6 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/37187/umfrage/der-weltweite-co2-ausstoss-seit-1751/
8 https://www.mdr.de/wissen/luetzerath-kohle-studien-100.html
9 https://taz.de/Fridays-for-Future-ueber-Luetzerath/!5903446/
10 https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/klimaschutz-gericht-klage-100.html
11 https://www.zdf.de/nachrichten/politik/luetzerath-kohle-klimawandel-hoene-climate-change-100.html