Tage des Grauens

Ein Resümee von Axel Grafmanns, Geschäftsführender Vorstand. — Die letzten Wochen lassen sich mit gutem Recht als ‚Tage des Grauens‘ titulieren. Menschen starben an Europas Grenzen, nein, diesmal ist nicht die Rede von der Ukraine…

Am 24. Juni 2022 kamen laut marokkanischen Behörden mindestens 23 Menschen in der spanischen Exklave Melilla in Nordafrika zu Tode, als diese versuchten den Grenzzaun zu überwinden. Menschenrechtsorganisationen vor Ort sprechen sogar von mindestens 37 Menschen. Die UNO verurteilte die „unangemessene“ Gewalt der Sicherheitskräfte gegenüber den Schutzsuchenden, die in die Tiefe stürzten, am Boden liegend verprügelt worden sind und stundenlang keine Hilfe erhielten. Der sozialdemokratische Ministerpräsident Spaniens Pedro Sanchez hatte unterdessen lobende Worte für die marokkanischen und spanischen Grenzschützer zum Vorfall übrig. Die Wortwahl des Ministerpräsidenten erinnerte eher an einen rechtsradikalen Hetzer als an einen Demokraten. So sprach er davon, dass die „Sicherheitskräfte“ die Situation „gut gelöst“ hätten und „den Angriff auf die territoriale Integrität seines Landes“ verhinderten. In seiner ersten Reaktion war kein Wort des Bedauerns oder des Mitgefühls über die Toten zu hören, die verzweifelt versucht hatten Europa zu erreichen. Mindestens 23 Menschen – gestorben am Grenzzaun Europas, der ironischerweise auf dem afrikanischen Kontinent steht und damit Rassismus und Kolonialismus nicht nur symbolhaft, sondern ganz real verbindet. Menschen, die mit letzter Hoffnung nach Europa aufgebrochen waren — monatelang unterwegs, die Familie zurücklassend, fliehend vor Krieg und Elend – und nun qualvoll gestorben vor den Toren Europas.

Doch das war noch nicht alles: während Deutschland sich mit anderen Themen beschäftigte, gab es Veröffentlichungen aus Griechenland, die eigentlichen aufhorchen lassen sollten. Laut Medienberichten benutzt die griechische Regierung Flüchtende, um andere Flüchtende illegal in die Türkei zurück zu bringen. Illegale Pushbacks — durchgeführt durch andere schutzsuchende Menschen. Als Druckmittel dient der Wink mit einem legalen Aufenthaltstitel. Griechenland steht damit in Kontinuität einer rassistischen und menschenverachtenden Migrationspolitik der vergangenen Jahre, geduldet von den Staaten des Nordens.
Haben die ersten zwei genannten Ereignisse wenigstens noch zaghaftes Medienecho hervorgerufen, so ging die nachfolgende Meldung vollkommen unter und fand so gut wie keine Beachtung: die Bundesregierung und damit die Ampelparteien, stimmten am 22. Juni 2022 der sogenannten „Screening Verordnung“ im Rahmen des Migrations- und Asylpakets der EU zu. Diese besagt, dass alle neu ankommenden Asylsuchenden an den Außengrenzen direkt inhaftiert werden können und einem Screening unterzogen werden. Die Schutzsuchenden gelten somit in den ersten Tagen als „nicht eingereist“ und genießen keinen Rechtsschutz. Sie können ohne Prüfung ihres Asylgesuchs direkt wieder abgeschoben werden.

Was wir also innerhalb von wenigen Tagen erleben, sind erneut Tote an den Grenzen, die abermalige Bestätigung völkerrechtswidriger Pushbacks an den EU-Außengrenzen, das Erpressen von Flüchtenden, um andere Flüchtende abzuschieben und eine deutliche Verschärfung der Asylregeln. Es ist die Aushöhlung des individuellen Menschenrechts auf Asyl und der Genfer Flüchtlingskonvention — nicht nur in Theorie, sondern auch in Praxis. Und während ein wesentlicher Pfeiler des Völkerrechts unter Beteiligung von sozialdemokratischen, liberalen und grünen Politiker:innen quasi zu Grabe getragen wird, schweigt die deutsche und europäische Öffentlichkeit. Wir kennen das Grauen, wir sind es gewohnt und so lange nicht-weiße Flüchtende unter den Toten sind oder ausgesperrt werden, hebt es uns wenig an. Auch das ist die Realität.

Ein Gedankenexperiment: „Beim Ansturm ukrainischer Geflüchteter an der Grenze zu Polen starben 23 Menschen. Hunderte wurden verletzt. Zeugen berichten vom äußerst brutalen Vorgehen der Sicherheitskräfte. Der deutsche Bundeskanzler lobt die Arbeit der Sicherheitskräfte an den Grenzübergängen…“.

Skurril und menschenverachtend, oder? Wieso selektiert die europäische Politik? Wieso stehen Menschenrechte zur Disposition?

Die Hoffnung war nicht groß, aber sie bestand als die neue deutsche Außenministerin vor einigen Monaten eine „feministischen Außenpolitik“ und die „Menschenrechte als Richtschnur“ für die neue deutsche Außenpolitik verkündete. Jenseits dieser Worthülse bleibt allerdings bis heute unklar, was genau Frau Baerbock damit meint. Die Migrationspolitik ist anscheinend davon ausgenommen.

Eine Untersuchung der Boston Consulting Group, die ebenfalls vor einigen Tagen veröffentlicht wurde, besagt, dass bis 2030 ca. 5 bis 8 Millionen Arbeitskräfte fehlen und der deutsche Wohlstand dadurch massiv gefährdet wird. Huch, Europa braucht dringend Arbeitskräfte zur Wohlstandssicherung, nimmt aber trotzdem Tote in Kauf, wenn diese versuchen das gelobte Land zu erreichen, die sehr gerne in unserem Land arbeiten würden? Wie passt das zusammen? Und ein zweiter Punkt soll nicht unbeachtet bleiben: Am gleichen Tag, wo die EU-Staaten einen neuen Baustein der Festung Europa hinzufügen, lassen sie sich für den Kandidatenstatus von Moldau und der Ukraine für die EU feiern. Mit Stolz wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die EU-Staaten zehntausende Menschen aus der Ukraine aufnehmen und aufgenommen haben. Es werden Gesetzte geändert, Busse losgeschickt und Lebensmittel geliefert. Das ist auch alles sehr positiv. Nur ist dieser Gegensatz kaum auszuhalten: wenn die einen Menschen, die vor Krieg und Elend flüchten, willkommen sind und die anderen Menschen, die vor Krieg und Elend flüchten, jeglicher Rechte beraubt werden. Schlimmer noch, ihr Tod wie in Melilla mit Hetze kommentiert wird – alles zur gleichen Zeit!

Fazit: Während also auf der einen Seite internationale Abkommen und Vereinbarungen, wie die allgemeine Erklärung der Menschenrechte oder die Genfer Flüchtlingskonvention mit Füßen getreten werden, Europa sich weiterhin abschottet, sowie Menschen sterben, wird auf der anderen Seite vieles sinnvolles getan, um ukrainische Schutzsuchende willkommen zu heißen. Darüber hinaus wird festgestellt, dass selbst aus Wohlstandsgesichtspunkten heraus Deutschland eigentlich massenhaft Zuwanderung benötigt. Damit drängt sich schließlich die Frage auf: Ist diese Politik unter irgendeinen Gesichtspunkt sinnvoll?

Die traurige Antwort ist leider: ja, aus einer Machtperspektive heraus. Sie ist unmenschlich, sie ist ungerecht, sie ist selektiv und unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten unsinnig. In Wahrheit ist sie vor allem rassistisch und damit lassen sich immer noch gut Wahlen gewinnen bzw. Macht sichern. Oder im Umkehrschluss: Eine andere Asylpolitik wäre unter menschlichen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten sehr sinnvoll. Sie würde auch der historischen und aktuellen Verantwortung Europas gerecht werden, die einst weite Teile der Welt kolonial ausbeuteten und Kulturen zerstörten bzw. durch unfaire Wirtschaftspolitik aktuell ökologische Lebensgrundlagen zerstört und Elend fördert. Nur die Angst, damit zum Wahlverlierer zu werden ist groß. Und das dürfte auch die Antwort sein, warum Parteien, die beispielsweise vor der aktuellen Regierungsverantwortung noch Wahlkampf mit Parolen wie „Wir haben Platz“ oder „Respekt“ gemacht hat, den Absichten keine Taten folgen lassen. Gibt es Tote zu beklagen wird „tiefe Betroffenheit“ ausgedrückt – mehr aber leider auch nicht. Die Gefahr mit einer liberaleren Migrationspolitik Wahlen oder Wähler:innen zu verlieren, wird anscheinend höher eingeschätzt als die gesamte Pro-Migrationsbewegung einfach mal komplett vor den Kopf zu stoßen.

Das soll keine Pauschalverurteilung von Politiker:innen sein. Soll heißen, es gibt sie noch, die Unterstützer:innen in verschiedenen Parteien, auch aus den Ampelparteien, die versuchen etwas zu bewegen und Menschlichkeit durchzusetzen — auch für nicht-ukrainische Menschen. Ihnen gilt unser Respekt und unsere Hochachtung. Menschen, die ihre Werte nicht verraten. Nur bleibt die Frage unbeantwortet, wie sie erfolgreich unterstützt werden können, wenn die offizielle Politik — geführt von ihren eigenen Parteien — die Menschenrechte mit den Füßen tritt oder die nur mit Druck einfordert, wenn diese östlich der europäischen Grenzen verletzt werden.