Seit einigen Monaten wird die Lage für Geflüchtete in Serbien immer prekärer und wir möchten unsere Hilfe vor Ort gerne verstärken. Daher reisten Lisa, aus unserem Vorstand und Yasmin, als stellvertretende Geschäftsführerin nach Subotica, um sich ein Bild von der aktuellen Lage zu machen, unsere Partnerorganisationen zu besuchen und um potenzielle neue Partner:innen zu treffen.
Ihr Bericht bewegte uns im Verein sehr und zeigt wie wichtig unsere Arbeit für Menschen auf der Flucht an den EU-Außengrenzen ist:
Wir fahren nach Subotica – die fünftgrößte Stadt Serbiens, nur wenige Kilometer von der Grenze zu Ungarn entfernt und der Ort, in welchem alle Hilfsorganisationen der Region angesiedelt sind.
Bereits auf der Hinfahrt nach Serbien blieb uns an der ungarischen Grenze zum ersten Mal die Luft weg: Ungarn brüstet sich mit Videos von Geflüchteten, die bei ihren Versuchen die 4 Meter hohen Grenzanlagen zu überqueren mit moderner Nachtsicht-Technik erspäht werden können. Videos von Menschen, die sich den Zäunen nähern – voller Hoffnung, diese nach qualvoller Zeit des Ausharrens nun endlich überwinden zu können und die ersehnte EU zu erreichen. Das alles wird den an der Grenze wartenden Autos – wie Teleshopping-Werbevideos – zur Wartezeitüberbrückung auf Monitoren angeboten!
An der Grenze zu Ungarn stehen zwei 4 Meter hohe Grenzzäune, die mit EU Geldern jetzt noch höher gemacht werden. Beim Überqueren der Zäune ziehen sich die Geflüchteten meist schwere Verletzungen zu. Wenn sie vom Grenzschutz erwischt werden, gehen die Polist:innen mit roher Gewalt gegen die Geflüchteten vor. Physische Verletzungen, psychische Misshandlungen und die Zerstörung aller Habseligkeiten gehören zur Tagesordnung. Innerhalb von Ungarn ist es nicht möglich, Asyl zu beantragen, denn das Recht auf Asyl ist ausgesetzt. D.h. Ungarn pusht alle Geflüchteten nach Serbien zurück, die sie aufgreifen – auch Geflüchtete, die zuvor gar nicht in Serbien waren. Seit Neuestem operiert hier an der Grenze auch die deutsche Polizei, um Frontex zu unterstützen. Sie patrouillieren in Serbien willkürlich durch die Grenzdörfer und versuchen dadurch die Geflüchteten und die Hilfsorganisationen einzuschüchtern. Sie unterstützen die serbische Polizei auch dabei, die Squats zu räumen, was fast wöchentlich geschieht.
In der Region Subotica gibt es zahlreiche Squats (modrige Ruinen, verfallene Häuser, oft abseits von Ortschaften), in welchen Geflüchtete leben, die an der Grenze ‚gestrandet‘ sind. Über den Sommer und Herbst 2022 wurden hier 5.000 bis 6.000 Geflüchtete im Monat versorgt, jetzt ist die Zahl gesunken und es sind noch ca. 2.000 pro Monat. Im Jahr 2022 ist die Zahl von Geflüchteten, die durch Serbien Richtung Europäische Union (EU) reisen, dennoch um 200% gestiegen im Vergleich zum Vorjahr. Serbien hatte mit mehreren Ländern offene Visa-Regulierungen, d.h. aus vielen Staaten konnten bisher die Menschen ohne Visum nach Serbien einreisen. So flogen viele direkt nach Serbien, um dann von hier aus weiter in die EU zu kommen und einen Asylantrag zu stellen. Auf Druck der EU wurden diese Regelungen 2023 wieder zurückgenommen. Was eine fatale Nachricht für die flüchtenden Menschen ist.
Am ersten Tag unseres Aufenthalts in Serbien treffen wir die Organisation Collective Aid, die schon seit 2018 in Subotica arbeiten. Die Organisation versorgt Geflüchtete mit Non-Food Items (d.h. Kleidung, Schlafsäcke, Zelte usw.), Lebensmitteln, Hygieneartikeln und mit Feuerholz. Sie stellen außerdem Duschen und Ladestationen zur Verfügung und sind Teil des Border Violence Monitoring Networks, d.h. sie dokumentieren Gewalt, die Geflüchteten bei Pushbacks oder Räumungen zugefügt wird. Gemeinsam mit anderen Organisationen, wie Blindspots und Construct Solidarity, statten sie die Squats mit Öfen und Fensterisolierungen aus, so dass der Winter in den zerfallenen Häusern etwas erträglicher ist. Collective Aid hat ein großes, sehr gut sortiertes Lager. Dabei erfahren wir von einem größeren Problem, auf das die Organisationen hier immer wieder stoßen: Die so dringend benötigten Schuhe dürfen nicht gebraucht eingeführt werden. Gebrauchte Schuhe aus Spendensammlungen sind als Biomüll in Serbien definiert. Doch diese Dinge werden dringend benötigt und müssen demzufolge neu zugekauft werden.
Auch der Druck der lokalen Bevölkerung in Serbien scheint zu steigen und die EU hat ebenfalls ein Interesse daran, die Geflüchteten von der Grenze fernzuhalten. Deshalb werden die Squats jetzt regelmäßig geräumt, die Geflüchteten werden in Busse gezwungen und nach Süd-Serbien gefahren –so weit weg wie möglich. Serbien nutzt Covid-Beschränkungen als Vorwand, um den Geflüchteten das Reisen mit öffentlichen Bussen zu verbieten und so machen die Menschen sich zu Fuß auf den Weg zurück nach Nord-Serbien.
Am Ende ist das alles ein unendlicher Kreislauf. Die Polizei räumt die Squats und zerstört dabei alles (Schlafsäcke, Decken, Zelte, Öfen, Fensterisolierungen). Die Hilfsorganisationen bringen neue Öfen, reparieren die Konstruktionen und verteilen neue Zelte, Schlafsäcke und Decken. Und nach und nach kämpfen sich die Geflüchteten, die in den Süden Serbiens gebracht wurden, wieder in den Norden zurück – nur wenige Tage nach der Räumung ist (fast) alles wie zuvor. Und dann wird die Polizei wiederkommen und wieder alles räumen. Was hier an Ressourcen verpufft ist ungeheuerlich und unvorstellbar.
Und eines ist klar: Die Hilfsorganisationen müssen das Spiel weiterspielen und weiter ihre Ressourcen dafür aufwenden, für die sinnlosen Zerstörungen aufzukommen, denn die Konsequenz wäre, dass Menschen frieren, hungern und total allein gelassen werden. Was auch sicher ist: die Geflüchteten kommen immer wieder und sie werden weiter versuchen diese schreckliche Grenze zu überqueren, denn hierbleiben ist keine Option, genauso wenig wie zurückgehen.
Deshalb müssen wir die Organisationen, die hier so wichtige Arbeit machen, weiter dabei unterstützen Menschlichkeit zu zeigen und Menschen in Not zu helfen. Und dabei im Hinterkopf behalten, dass wir das Spiel nicht (nur) mit der serbischen Polizei spielen, sondern mit Frontex und auch mit der deutschen Polizei, die von unseren Steuern bezahlt werden.
Bei unserem Besuch haben wir außerdem zwei Verteilungen begleitet und unterstützt. Die Organisationen vor Ort sind gut vernetzt und organisiert. MVI begleitet jede Verteilung, Collective Aid und No Name Kitchen haben sich die Tage aufgeteilt, an welchen sie zu den verschiedenen Squats fahren, so dass alle Orte regelmäßig abgedeckt werden.
Medical Volunteer International (MVI) unterstützen wir bereits finanziell in Serbien. MVI kümmert sich um die Menschen, die sich beim Überqueren des Zaunes tiefe Verwundungen zuziehen, sich beim Sprung vom Grenzzaun die Knochen brechen oder bei illegalen Transporten verletzt werden. Sie beurteilen auch, welche Verletzungen in Krankenhäusern behandelt werden müssen und sorgen dann dafür, dass die Verletzten in ein Krankenhaus kommen. Das ist manchmal ein harter Kampf, weil die Krankenhäuser Geflüchtete oft nicht behandeln wollen. Bei ihrer Arbeit kommen die Freiwilligen von MVI täglich mit Menschen in Berührung, deren Menschenrechte stark verletzt wurden. Sie haben nun auch damit begonnen, diese Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren und in Berichten zusammen zu fassen. Es scheint, als würde hier allen langsam klar, dass politische Arbeit und Aufklärung über die Situation vor Ort auch sehr wichtig ist. Denn eine Berichterstattung über das Leid der Geflüchteten in Serbien und die alltäglichen Menschenrechtsverletzungen existiert kaum.
Wir lernen auch einen Arzt aus Hamburg kennen, der hier freiwillig für einige Zeit Schutzsuchende medizinisch versorgt.
Er zeigt Fotos von schweren Verletzungen, die sich die Menschen beim Überqueren des 4 Meter hohen ungarisch-serbischen Grenzzauns zuziehen. Dabei berichtet er sichtlich berührt von einem Mann aus Syrien, den er kurz zuvor mit einem schweren Beinbruch versorgen musste. Bis das verletzte Bein des Mannes vollständig ausgeheilt ist und er zu vollen Kräften kommt, kann es bis zu einem Jahr dauern, bevor er den nächsten Versuch über die Grenze wagen kann. Der Mann ist traumatisiert und findet sich in einer unerträglichen Lage wieder. Er wird sich wohl in einem der offiziellen Lager registrieren müssen, die nicht nur viel zu klein und überfüllt, sondern in dem auch die hygienische und medizinische Versorgung mangelhaft sind, obwohl sie größtenteils vom UNHCR und der EU finanziert werden. Sie gleichen eher Gefängnissen. Deshalb entscheiden sich viele Geflüchtete nicht in ein Lager zu gehen, sondern lieber in verlassenen Hausruinen, in sogenannten Squats, zu wohnen, wo das Leben selbstbestimmter ist.
Die dritte wichtige Organisation, die hier arbeitet, ist No Name Kitchen (NNK), mit denen wir bereits in Bosnien und Griechenland kooperieren. Sie verstehen sich selbst als politische Aktivistinnen und legen ihren Fokus darauf mit den Geflüchteten zu sprechen, auch Spaß zu haben und ihnen ein Stück Normalität zurückzugeben. Sie sind vor allem hier, um sich solidarisch zu zeigen – die Hilfeleistungen sind nur ein Teil davon. Dabei ist die Unterstützung, die sie leisten, wichtig und nicht wenig! No Name Kitchen verteilt Holz, Nahrungsmittel, Hygieneartikel und Kleidung. Außerdem machen sie viel Advocacy-Arbeit. Die Nahrungsmittel, die No Name Kitchen verteilt, finanziert Wir packen’s an. Die Freiwilligen erzählen uns, dass sie bis vor kurzem, bevor die wöchentlichen Räumungen begannen, bis zu 1.500 Menschen pro Woche mit Essen versorgten. Sie berichten von der Zeit, in der sie 550 Essenstüten an einem Tag packten. Das ist wirklich viel Arbeit für fünf Freiwillige.
Mit Collective Aid fuhren wir zu einem Squat, der erst vor zwei Tagen von der Polizei geräumt wurde. Der Truck, mit dem wir dort hinfuhren war vollgeladen mit Schlafsäcken, Essen, Feuerholz und hat drei Duschen sowie einen riesigen Wassertank. Wir halfen bei der Verteilung von Essen (4 Eier, ein Stück Brot und eine Packung Datteln für eine Person), von Schlafsäcken und Hygieneartikeln (ein Rasierer, ein Stück Seife und ein paar Feuchttücher).
Die Verteilung war ruhig, denn es waren nur ca. 60 bis 80 Personen da. Einige Menschen hatten bereits angekündigt in der Nacht anzukommen, sie hatten sich vom Süden wieder zurück in den Norden durchgeschlagen. Für sie legten wir Feuerholz schon bereit. Um das Holz wird heftig diskutiert und wir merkten sofort, um welche dringend benötigte Ressource es hier geht. Wir fahren die Holzsäcke mit einer Schubkarre durch die Ruinen eines alten großen Bauernhofs zu unterschiedlichen Stellen. Mit Planen und Zelten haben die Menschen sich Wohnräume gebaut, auf dem Boden liegt Teppichboden, drinnen ist es sauber, während sich draußen der Müll häuft, der nicht ordentlich entsorgt weden kann. Es gibt kein fließendes Wasser, keine Toiletten, keinen Strom.
Der andere Squat, den wir besuchen, befindet sich auf einem zerfallenen Fabrikgelände mit mehreren Lagerhallen. Dort drinnen stehen Zelte, es gibt auch selbstgebaute Öfen und in einer der Hallen gibt es eine richtige provisorische Küche, in der auch Brot gebacken wird und gerade Pommes in einem riesigen Topf frittiert wurden, als wir da waren. Auch hier ist es drinnen sauber, während sich draußen die Müllberge stapeln. Wir verteilen Nummern für das Duschzelt an die Geflüchteten, die geduldig warten müssen, bis sie dran sind. Jede:r darf 3,5 Minuten duschen, dann reichen die Freiwilligen ein Handtuch und eine frische Unterhose ins Zelt. Wir können es uns nur schwer vorstellen, wie wertvoll in dieser Lebenssituation eine warme Dusche, ein frisches Handtuch, eine frische Unterhose und frische Socken sind. Wieder fragen uns viele nach Schuhen, die wir leider nicht haben.
Bei dieser Verteilung war wesentlich mehr los, die Menschen waren aufgeregt, aber auch nervös. Manche waren zugänglicher uns gegenüber. Sie sprachen uns an, fragten, wie wir heißen, wo wir herkommen und so machten wir Smalltalk über Deutschland, Syrien oder Ägypten und lernten arabische Wörter. Aber wir hörten auch Geschichten darüber, wie ungerecht die gesellschaftliche Lage in Ägypten ist, wie die ungarische Polizei Dokumente zerstört, über Abzocken von Schmugglern und die Ablehnung der lokalen Bevölkerung.
Ein Junge kommt zu uns: „Why do you help us?“
Wir waren überrumpelt von der Frage, denn das hat uns noch niemand gefragt. Wir sagten so was wie: „Weil wir nicht wollen, dass Menschen leiden. Aus Solidarität. Weil wir nicht gut finden, was unsere Regierung macht.“
Wenn man die Situation gesehen hat, findet man es irgendwie selbstverständlich zu helfen. Aber uns wird auch immer klar, dass die Hilfe hier so viel politischer ist, als humanitäre Hilfe das sonst ist. Und, dass hier zu sein und zu helfen ein „Dagegenhalten“ und damit in sich auch ein politisches Statement ist.
Plötzlich rief einer: „Police!“ und alles setzte sich in Bewegung.
Die Geflüchteten rannten in alle Richtungen weg. Wir blieben einfach stehen und wussten nicht richtig was zu tun ist. Der Ägypter mit dem wir lange gesprochen hatten, stürzte aus dem Duschzelt, nur in Unterhose und sorgte damit für allgemeine Erheiterung – einer der wenig humoristischen Momente des Tages. Wir konnten mitlachen, denn die Polizei fuhr nur einmal auf den Hof, drehte eine Runde und fuhr wieder weg. Doch gleichzeitig ist es schrecklich offensichtlich, dass es hier um Angst und Einschüchterung geht.
Was als Nächstes mit den Menschen hier auf der Flucht passieren wird ist unvorhersehbar. Wichtig ist, die Hilfsstrukturen vor Ort zu erhalten und die Menschen in ihrem Leben in der Sackgasse, welches die EU zu verantworten hat, nicht allein zu lassen. Wir packen’s an wird die Organisationen vor Ort weiter bei ihrer wichtigen Arbeit unterstützen!