9. November – Nie wieder?!


„…Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei – abgesehen von menschlichen Ausnahmeschwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht und ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt…“

Das Zitat stammt von Heinrich Himmler, dem sogenannten Reichsführer SS, aus seinen „Posener Reden“. Er schwört dabei die versammelten SS-Männer auf die Vernichtung des jüdischen Volkes ein und zeigt „Mitgefühl“ für die Schwere der „notwendigen“ Aufgabe, also des massenhaften Tötens von jüdischen Menschen. Dabei betont Himmler die „Anständigkeit“ seiner versammelten Henker.

Heute ist nicht nur der Tag des Mauerfalls 1989, heute ist auch der Tag der Reichspogromnacht 1938, wo Synagogen überall in Deutschland vom rassistischen Mob in Brand gesetzt wurden, als symbolischen Auftakt der Vernichtung von Millionen. Antisemitismus war das zentrale Motiv des nationalsozialistischen Wahnsinns. Der scheinbare „Kampf“ gegen eine angebliche jüdische Weltverschwörung wurde genutzt, um Rechte abzubauen und abscheuliches Handeln zu legitimieren. Viele fragen sich, wie konnte das so weit kommen?

Der Weg nach Auschwitz war gepflastert von vielen kleinen Schritten mit tausenden Mittäter:innen. „Anständig“ bleiben und ein „notwendiges“ Verbrechen durchzuführen, damit angeblich „Schlimmeres am deutschen Volk“ verhindert werden würde, war ein Schritt davon, den die NS-Führung geschickt propagierte, um das Unfassbare möglich zu machen.

Am Ende des Krieges und des nationalsozialistischen Schreckens waren sich viele Menschen einig in der Aussage: Nie wieder! Nie wieder eine Aussetzung der Rechte von Menschen, nie wieder eine Stigmatisierung von Menschengruppen. Vieles wurde in internationales Recht gegossen, um zukünftig Menschen unverhandelbare Rechte zuzubilligen. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte erfolgte, und die Genfer Flüchtlingskonvention wurde von den meisten Staaten der Erde angenommen.

Doch ist wirklich aus der Vergangenheit gelernt worden? Verzichtet werden soll auf Zitate von AfD-Politiker:innen – sie stehen in der Tradition nationalsozialistischen Gedankenguts. Wer einer menschenverachtenden Ideologie anhängt, verwundert nicht mit menschenverachtenden Aussagen. Doch wie sieht es mit unseren demokratischen Politiker:innen aus?

Seltsam muten Zitate der letzten Zeit bezüglich Migration an.

So sagte der Alt-Bundespräsident Gauck im Bezug zur Verhinderung sogenannter irregulärer Migration: „Wir müssen Spielräume entdecken, die uns zunächst unsympathisch sind, weil sie inhuman klingen.“

CDU-Politiker Jens Spahn verkündet, dass er „irreguläre Migration gegebenenfalls auch mit physischer Gewalt aufhalten“ möchte und dass die Genfer Flüchtlingskonvention, die allen Menschen mit anerkannten Fluchtgründen Asyl zusichert, „nicht von Gott an Moses gesandt, sondern veränderbar“ wäre.

Die Grünen Ricarda Lang und Winfried Kretschmann plädieren für „Ordnung, Steuerung und Rückführung“ in der Asylpolitik, was auch immer das heißen soll.

Schließlich schreibt der FDP-Vorsitzende und Bundesfinanzminister Christian Lindner auf Twitter: „Es gibt Menschen, die sind nicht auf der Flucht, sondern kommen aus wirtschaftlichen Gründen zu uns. Diese haben eigentlich kein Aufenthaltsrecht & wollen möglicherweise auch gar nicht arbeiten.“

Und Sarah Wagenknecht will Asylbewerber:innen rigoros abschrecken: „Ein Land, wo man keinen Anspruch auf Leistungen hat, ist natürlich auch kein Zielland für Migration, weil dann geht man da nicht hin.“

Doch nicht nur demokratische Politiker:innen erschrecken mit Aussagen zur Migration, die noch vor Jahren undenkbar und jenseits des demokratischen Konsenses waren. Auch in der Hauptnachrichtensendung der ARD, den Tagesthemen, erzählt die Journalistin Julia Ruh, sie plädiere dafür, „Grenzen abzuriegeln und national zu denken“, denn das wäre nicht „unmenschlich, sondern notwendig“. Maximal bekämen Grünen-Wähler:innen „offenherzige Schnappatmung…“.

Was passiert hier eigentlich?

Parteiübergreifend überbieten sich Politiker:innen darin, Rechtsbrüche, Grausamkeiten und Deportationen von Flüchtenden zurück ins Elend als legitim hinzustellen. Und selbst wenn dazu internationales Recht gebrochen werden soll, wird das als schiere Notwendigkeit dargestellt. Nicht mehr das Befolgen von Menschenrechten oder der Genfer Flüchtlingskonvention hat oberste Priorität, sondern „Härte“ und „inhumanes Handeln“ sollen in Ordnung sein, um die scheinbar notwendige Abwehr von Menschen an den Grenzen zu erreichen. Das Wahrnehmen von Rechten – zum Beispiel dem des Asylbegehrens – wird als illegitim propagiert, und außerdem kämen sie ja nur für ein paar hundert Euro Sozialhilfe…

Während in Afghanistan, Syrien, Pakistan, dem Sudan, dem Jemen…Naturkatastrophen und Kriege Millionen Menschen in unbeschreibliches Elend versinken lassen, ist nicht Menschlichkeit und Solidarität das Gebot der Stunde des reichen Europas, sondern Flüchtenden wird pauschal und unbelegt unterstellt, sie wären prinzipiell „faul und arbeitsscheu“.

NIE WIEDER heißt auch, nie wieder eine Stigmatisierung von Menschen hinzunehmen.
NIE WIEDER heißt auch, Menschen verbriefte Rechte nicht in Abrede zu stellen.
Und NIE WIEDER heißt auch, niemals wieder inhumanes Handeln zu legitimieren, sondern Solidarität und Menschlichkeit in den Mittelpunkt unseres Handelns zu stellen.

Heute ist der 9. November.

Wir erinnern auch an die Maueröffnung 1989. Hoffnung war die Antwort auf die Abschottung der DDR, der wahnwitzigen Idee, 17 Millionen Menschen einfach einsperren zu können. Wir brauchen mehr Hoffnung in Europa, wir brauchen das Einreißen von Mauern und Stacheldraht.

Aber wir brauchen auch Wachsamkeit, damit nie wieder inhumanes Handeln als notwendig dargestellt wird, und sich Tage wie der 9. November 1938 niemals, niemals, niemals wiederholen!