Nicht nur ein Alptraum – Freiluftgefängnisse für Migrant*innen

Foto: Wir packen’s an

„Wir schreiben das Jahr irgendwann. Nach dem letzten Aufstand hat man „sie“ weggesperrt, mitten in der Wohlstandszone. Nachdem „sie“ jahrelang in einem Dreckloch leben mussten, obwohl „sie“ nichts anderes wollten, als an der Party der Privilegierten teilzunehmen, wurden „sie“ gequält: Man gab „ihnen“ Essen, wo sich Maden wohl fühlten, nicht genug Wasser, „ihre“ Rechte wurden permanent gebrochen, Urinbäche flossen durch die notdürftigen Zelte, und man ließ „sie“ warten und warten und warten. Als „sie“ sich wehrten, sperrte man sie weg, keine Zeugen, keine Berichte mehr. Ein paar Kilometer weiter feierten die Privilegierten in Restaurants und Bars. Der Vorwand für das Freiluftgefängnis war eine hochansteckende Seuche. Nur werden die einen weggesperrt, während die anderen Bier und Wein trinken und am Strand eng beieinander liegen…“ Ich wache schweißgebadet auf, mein Herz rast, die Hände zittern. Ein Alptraum? Mit einem Alptraum kann ich leben, mit einem Freiluftgefängnis nicht, nicht in einem Europa, das sich viel auf seine Werte einbildet und zu den wohlhabendsten Regionen des Planeten gehört. Meine Hände zittern immer noch und wollen sich nicht beruhigen.

Die Straße mit der berühmten Tankstelle und dem Supermarkt mit den vier Buchstaben ist geräumt. Überall liegt Müll herum, es stinkt. Vereinzelt sind noch einige von „ihnen“ unterwegs. Man trieb „sie“ seit zwei Tagen in das neue Internierungslager, heute wurde den NGOs dann verboten, Essen und Hygieneprodukte auszuteilen. Der Zugang ist sehr restriktiv geregelt, Zeugen unerwünscht. In den Bergen und Wäldern sollen sich noch 1500 Militante von „ihnen“  aufhalten. Die werden morgen zusammengetrieben, Spezialpolizei ist angekommen vom Festland. Das wird nicht schön.

Moria verschwindet langsam wieder aus den Nachrichten, die Sensation ist vorbei. Ich spreche mit vielen, zuhören, verstehen – das ist so wichtig. Viele NGOs zweifeln, ob sie weitermachen, wie sie weitermachen, ob sie weitermachen können, ob sie weitermachen sollen und wollen. Unter restriktiven Vorgaben können sich NGOs registrieren lassen, und weiterhin staatliche Aufgaben erledigen auf einer Insel mit 50 % Arbeitslosen. Es gibt einen heftigen Disput unter den Hilfsorganisationen, was jetzt das „Richtige“ ist. Einige wollen ihre Zelte abbrechen, andere diskutieren noch. Vielleicht gibt es kein „richtig“, immer nur Vor- und Nachteile. „Wie lange soll denn der Lockdown gehen? 1-2 Jahre?“ fragt mich ein leitender NGO-Mitarbeiter. „Wir haben tausende Petitionen unterschrieben und verfassten noch mehr Beschwerden. Aber das hier, das ist noch mal ein anderes Level.“ Es ist eine Sache, staatliche Aufgaben zu ersetzen, weil ein reicher Kontinent versagt: Seenotrettung, medizinische Versorgung, Nothilfe. Es ist eine andere Sache, ein Freiluftgefängnis zu unterstützen, einen Abschiebeknast. Wo sind die Grenzen der Humanitären Hilfe? Die Diskussion zerreibt alle, niemand scheint eine Antwort zu haben.

Foto: Wir packen’s an

Ich treffe Mustafa. Mustafa kommt aus Asien und ist 17 Jahre alt. „Im Mai hat mich die Polizei verprügelt, weil ich Fotos gemacht habe. Als ich sie darauf hinwies, dass ich minderjährig bin und Rechte habe, lachten sie, und meinten, ich könne das ja ihren Vorgesetzten erzählen.“ Deutschland beschwert sich, was in Russland, Weißrussland oder in Nordkorea passiert. Vielleicht mit Recht, aber was ist mit Tränengas auf Kinder, jahrelang Menschen im Dreck leben lassen und seit neustem: dem Freiluftgefängnis im EU-Mitgliedsland Griechenland? Mustafa ist selbst auf Hilfe angewiesen. Doch als die Menschen auf der Straße hausten, packte er einen Rucksack und verteilte Dinge. „Ist die Polizei in Deutschland auch so brutal?“ will er wissen. „Und können die in Deutschland auch machen was sie wollen, ohne dass das jemand kontrolliert?“ Mustafa hat mindestens so viele Fragen an mich wie ich an ihn. Als ich Fotos von den Müllbergen mache, sagt er: „Pass bloß auf, das da sind Faschisten.“ Grimmig blickende Menschen führen dazu, dass ich dann doch mal weiterfahre…

Ich laufe mit Mustafa durch die Ruinen von Moria. Katzen streifen durch das verbrannte Areal, ansonsten steht nicht mehr viel. Im ehemaligen Asylzentrum liegen noch teils verkohlte Reste von Flüchtlings-IDs. Überall Schutt und Ruinen. Eine verkohlte Anklage an europäische Werte, die da verbrannt sind: Verrußt, stinkend, sehr sichtbar. In Moria ist jede Hoffnung auf Menschlichkeit in Europa in Flammen aufgegangen. Diejenigen, die jahrelang zugeschaut haben obwohl sie davon wussten und etwas hätten ändern können, gehören verurteilt, und niemand anders. „Ich war neun Monate in Moria,“ sagt Mustafa. „Hier habe ich 2 Stunden gesessen und auf die Bewilligung meines Asylantrages gewartet“ sagt er und zeigt mir die Bank. „Hier habe ich gewohnt.“ Ich frage nach „Aber das ist doch nur einen Meter breit?“ Mustafa nickt „Wenn ich mich der Länge nach hingelegt habe, ging es“. Als wir uns dem neuen Internierungslager nähern, wirkt er erschrocken „Keine Fotos, dort ist Militär.“ Ich stecke das Handy wieder ein. Mustafa wirkt nachdenklich. „Das ist schon seltsam, oder? Ständig aufpassen, ja nichts Falsches zu tun. Hättest Du gedacht, dass sowas in Europa möglich ist? Hm. Seit ein paar Jahren weiß ich, dass Menschenrechte in Europa nichts gelten, zumindest nicht für alle, nur für die Privilegierten.

Was nun? Ist das neue Freiluftgefängniss auf Lesbos die Blaupause für die nächste Gruselstfufe europäischer Flüchtlingspolitik? Ich fürchte ja. Das australische Modell, seit Jahren von der EU angestrebt, ist Realität geworden. Europa 2020.

Und noch ein letzter Satz: „Sie“ sind Menschen, mit Fehlern und Vorzügen, mit Schwächen und Stärken. Sie haben Namen. Gebt ihnen Namen und findet endlich eine deutsche Entsprechung für das englische Wort: people on the move. Oder sagt zumindest nicht mehr „Flüchtlinge“, sagt Menschen.