Ich habe Angst über Leichen zu stolpern

Unser letzter Tag im polnischen Grenzgebiet. Morgens um 7 weckt uns die Nachricht „In einer halben Stunde fahren wir zu einer „Intervention“. Kommt ihr mit?

Die letzten beiden Tage haben wir damit verbracht, möglichst viele der dezentralen freiwilligen Gruppen zu treffen, die entlang der polnisch-belarussischen Grenze aktiv sind. Sie haben Häuser entlang der Grenze gemietet oder von solidarischen Menschen zur Verfügung gestellt bekommen, haben in Windeseile Strukturen und Netzwerke aufgebaut, untereinander und mit vielen engagierten Anwohner:innen vor Ort, und leisten Tag für Tag und vor allem Nacht für Nacht überlebenswichtige Nothilfe. Diese „Intervention“ genannten Hilfseinsätze laufen mittlerweile nach festen, eingeübten Regeln, mit klarer Aufgabenverteilung in den kleinen Freiwilligenteams, die sich auf den Weg in den Urwald machen, um Menschen in Not zu unterstützen. Und es ist ein echter Urwald hier im polnischen Grenzgebiet, der letzte europäischen Urwald, mit Bisons, Wölfen, und manchmal sogar Bären. Nachts im Dunkeln ist er schier undurchdringlich, und die meisten Notrufe kommen nachts. Denn die Menschen, die in diesem Urwald voller Sümpfe gestrandet sind, haben panische Angst vor der polnischen Polizei und der polnischen Armee, und das zu Recht. Also kann die meiste Hilfe nur im Schutz der Dunkelheit oder bestenfalls in der Dämmerung stattfinden. Einer der Freiwilligen sagt „Jedes Mal, wenn ich in dieser absoluten Finsternis durch den Wald stolpere, fürchte ich, in eine Leiche zu treten. Diese Angst begleitet mich bei jedem Hilfseinsatz.“ Eine andere erzählt „Diese Wälder hier sind voller Sümpfe, auch wir können uns da nicht sicher bewegen. Es sind Gruppen von Anwohner:innen, die Nacht für Nacht in diese Sumpfgebiete gehen, die Menschen retten, die im Schlamm feststecken und sie auf ihren Rücken in Sicherheit tragen.

Mit diesen Gedanken im Kopf brechen wir also auf, so schnell wie möglich, warm angezogen, denn hier im Osten Polens ist es nachts schon empfindlich kalt. Mit unserem deutschen Kennzeichen dürfen wir auf keinen Fall in die Nähe des Hilfseinsatzes fahren, denn überall sind Straßenkontrollen der polnischen Polizei. Wir treffen uns also mit einem Aktivisten und fahren in seinem Auto weiter in den Wald – und da sehen wir tatsächlich im Morgennebel einen Bison. Für einen kurzen Moment bin ich abgelenkt von unserer eigentlichen Mission und nur noch bezaubert von dieser unerwarteten Begegnung. Doch dann sind wir auch schon angekommen, aussteigen, leise die Autotüren schließen. Der Rest des Teams ist schon da und berichtet von einer hohen Polizeipräsenz auf ihrer Fahrt. Kurze, geflüsterte letzte Anweisungen, die Rucksäcke voller Essen, Wasser, erster Hilfe, Schlafsäcken und Kleidung werden verteilt, ein paar Isomatten in die Hand und los geht’s. Erst noch einen Waldweg entlang und dann dem Google Maps Pin folgend durch das Unterholz.

Diesmal hat das Team Glück, nach kurzer Zeit finden wir die drei Männer, unter einen Baum gekauert haben sie die Nacht verbracht. Sie sind nass, kalt, haben schon seit Tagen keine Trinkwasser mehr und ihre Füße sind in einem fürchterlichen Zustand. Besonders von dem einen, der Diabetes hat. Sie kommen aus Syrien, aus einem Dorf in der Nähe von Damaskus. Einer von ihnen kann gut Englisch und übersetzt. Trotz der Schmerzen beim Behandeln der Füße versucht er immer wieder, uns aufzumuntern, Scherze zu machen. Nur als er von seiner Familie erzählt, da bricht seine Stimme, er muss innehalten, kann nicht weitersprechen. Er senkt den Kopf, um die Tränen zu verbergen. Zwei Kinder hat er, eine Tochter und einen kleinen Sohn, für sie macht das doch alles
Sie sind seit 15 Tagen in diesem tödlichen Niemandsland gefangen, 3 Mal wurden sie bereits gewaltsam von polnischen Uniformierten gepushbacked. Neuerdings stehlen sie dabei sogar die Sim-Karten, so dass ihre Opfer nicht mal mehr einen Notruf absetzen können.

Ich bin froh dass wir bei diesem Hilfseinsatz sogar ein wenig mit unserer Erfahrung unterstützen können. Eins wird dabei bitter deutlich: Unsere Schuhe sind mit Abstand die besten, die vor Ort zur Verfügung stehen und verteilt werden können – und genau das, was die Menschen eigentlich bitter brauchen: Wasserdicht, atmungsaktiv, gemacht um lange darin laufen zu können … Die Bilder und das Gespräch mit den Dreien begleiten mich noch immer, der überschwängliche Dank für so Weniges und das eigene Gefühl, noch lange nicht genug zu tun …

Wir machen weiter und leisten Nothilfe für Menschen auf der Flucht, die im Grenzgebiet Polen-Belarus festsitzen. Hilfst Du dabei?

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