In Deutschland tobt derzeit die Debatte darüber, dass sich 2015 nicht wiederholen dürfe. Europa möchte die Geflüchteten aus Afghanistan in Iran, Pakistan und Usbekistan unterbringen. Aber die Nachbarstaaten machen auch schon die Grenzen zu. Menschlichkeit? Internationale Fehlanzeige. Hierzulande wird Wahlkampf gemacht, die Verzweiflung der Menschen ignoriert.
Dabei ist es nur sechs Jahre her, dass ein kurzer Anflug des Mitgefühls die Welt erfasst hatte. Am 2. September 2015 wurde der Leichnam des zweijährigen Alan Kurdi am Strand der türkischen Mittelmeerküste gefunden. Das Bild des toten syrischen Kindes erschütterte Menschen allerorts. Geändert hat sich seither nichts.
Auch aus Kabul erreichten uns kürzlich erschreckende Videos. US-amerikanische Soldat*innen nahmen nach der Machtübernahme der Taliban über den Zaun des überfüllten Flughafens ein Baby entgegen. Das offenbar kranke Kind wurde anschließend in ein norwegisches Krankenhaus auf dem Flughafengelände gebracht.
Kanzlerin Merkel zufolge gibt es auch jetzt noch keine Beschlüsse, wie viele Geflüchtete aus Afghanistan die EU aufnehmen wird. Stattdessen möchten die EU-Innenminister*innen den Grenzschutz verstärken. Fast die Hälfte der 27 Mitgliedsstaaten haben ohnehin bereits Zäune.
Ende 2020 gab es weltweit 82,4 Millionen Vertriebene – fast so viele Menschen wie Einwohner*innen in Deutschland. 42 Prozent von ihnen waren unter 18 Jahre alt. Zwischen Januar und März dieses Jahres allein wurden auf den drei Haupt-Mittelmeerrouten 2.268 Vermisste oder Ertrunkene gemeldet.
Wir denken heute an Alan Kurdi, dem das Leben buchstäblich genommen wurde. Und wir denken an alle diejenigen auf der Flucht, denen noch geholfen werden kann. Nein, 2015 darf sich nicht wiederholen. Denn an den europäischen Außengrenzen finden Massensterben statt. Vor sechs Jahren genauso wie heute.