An der EU-Außengrenze: 7 Tage auf Chios – Tag 1: Nahrungsausgabe

Als ich 2015 den toten Alan Kurdi gesehen habe, musste ich etwas tun. Es hätte mein Neffe sein können“, sagt Ruhi von unserer Partnerorganisation Refugee Biriyani & Bananas auf die Frage, warum sie sich für Schutzsuchende engagiert. Wir sind auf der Ägäisinsel Chios angekommen. Ruhi ist ein Engel für die geflüchteten jungen Männer, auf sehr unprätentiöse Art und Weise kümmert sie sich die Frau aus Newscastle um ihre „Brüder“ hier an der EU-Außengrenze. Nachts leuchten die Lichter vom türkischen Festland, während Menschen in den netten Tavernen griechischen Rotwein genießen. Nahe Grenze, Festung Europa, getrennt von der Festungsmauer Mittelmeer – für die einen ein Urlaubsparadies, für die anderen ein Massenfriedhof wo Brüder, Schwestern, Väter, Mütter und Kinder auf dem Grund des Meeres Europa für seine Menschenfeindlichkeit stumm anklagen. Berichte von völkerrechtswidrigen Push-Backs durch die griechische Küstenwache häufen sich, Menschenrechtsverletzer Europäische Union...

Noch sind nicht alle Fahrräder von unserer Junilieferung verteilt. „Für eure 100 Fahrräder haben wir 700 Anmeldungen. Es ist eben nicht leicht, wenn du im 8 km entfernten Camp Vial lebst und Besorgungen in der Stadt machen musst. Die bedürftigsten Menschen bekommen eure Fahrräder, da müssen wir eine Auswahl treffen“. Ich sehe einen leeren Spendenkarton mit Andreas‘ „Wir packen’s an“ Aufklebern…. unsere Sachen haben also ihre Bestimmung erreicht.

Ruhi helfen junge Geflüchtete aus dem Camp, zwei aus Afghanistan und ein bezaubernder junger Mensch aus Palästina. „In zwei Wochen bekomme ich meinen Pass, dann will ich nach Deutschland“ strahlt uns der junge Mann an. Auf unsere Frage, was er dort machen möchte, meint er „IT-Engineering“. Wir wünschen ihm viel Glück, und hoffen, seine Träume werden erfüllt… Junge Menschen aus Afghanistan, Somalia oder Palästina wollen im Grundsatz genau das gleiche wie junge Menschen in Deutschland: eine Perspektive, Chancen um sich zu verwirklichen oder sich selbst ein Bild von der Welt durch eigene Erfahrungen formen. „In 5 Jahren komme ich dann wieder, als internationaler Volontär“, meint er. Wird die humanitäre Katastrophe in 5 Jahren noch genauso ungelöst sein wie jetzt? Glaubt man den Prognosen der UN und verdeutlicht sich die Ignoranz des globalen Nordens, dann sind die Aussichten düster.

Als nächstes wird die Essensverteilung für die Apartments vorbereitet, die UNHCR hat auf Chios Wohnungen für ca. 200 sehr kranke Menschen oder bedürftige Familien angemietet. Ich frage Ruhi, warum sie Essen austeilt? „Das Essen für Geflüchtete ist sehr schlecht.“ meint sie, und dass sie maximal alle 2 Monate einmal genug Mittel für Essen für alle hat. Ein wichtiger Tropfen auf den heißen Stein, was aber hinten und vorne nicht ausreicht. Ruhi scheint ein ausgeklügeltes Ticketsystem zu haben, jeder wird vermerkt, der einen kleinen Essensbeutel mit Zucker, Öl, Brot und Reis bekommt, jeder Beutel Essen im Wert von 5 € . Die Sonne ist mörderisch, wir suchen etwas Schatten für die Ausgabe der Essensbeutel. Menschen mit schweren Verletzungen und Familien mit Kindern holen sich ihre Rationen. Die Atmosphäre ist entspannt, es wird viel gelacht. Ruhi erzählt: „Eigentlich wollte ich etwas für Frauen und Kinder hier machen. Ich habe aber schnell gemerkt, dass auch Männer sehr bedürftigt sind in den Lagern.“

Später treffen wir noch Toula von CESRT/Offene Arme, die uns ein Update zur aktuellen Situation gibt. Gegenwärtig ist der Zugang zum Lager Vial auf Grund von Corona sehr eingeschränkt, nur unser medizinischer Kooperationspartner SMH hat noch Zugang. Deutsche Tourist*innen sollen aber trotzdem Urlaub im schönen Griechenland machen, die Ausgangsbeschränkungen für Schutzsuchende werden immer wieder verlängert… Toula hat einen Umsonstladen in der Nähe des Lagers aufgebaut, wo Geflüchtete sich Sachen abholen können, nachdem Verteilaktionen in Vial seit März nicht mehr möglich sind. Die aktuelle Regelung ist, dass pro Stunde von 9 Uhr bis 21 Uhr 150 Personen das Lager verlassen dürfen.

Heute Abend treffen wir unsere 2 Ärztinnen, am Montag zeigt uns Toula ihr Warehouse und den Umsonstladen, am Dienstag sind wir bei der norwegischen NGO IRIS vor Ort, dann freuen wir uns darauf auch SMH zu treffen, und schließlich kommt ja auch noch ein Transport von uns an… unser Zeitplan ist gut gefüllt!