„Ich muss noch was dazu verdienen, mit meiner Pension komme ich nicht über die Runden“ sagt ein älterer Mann an der Tankstelle in der Ukraine. Wir fragen, wie viel Pension er denn bekommt, und er nennt eine Summe, die umgerechnet 55 € im Monat beträgt. Angesichts der Tatsache, dass die Lebensmittelpreise in der Ukraine zum Teil höher als in Polen sind, wird verständlich, warum er mit seinem Geld nicht auskommt. Wir sind auf dem Weg nach Ternopil, gute 200 km östlich der polnischen Grenze.
Wir haben 18 Generatoren und Diesel im Wert von 20.000 € von dem Geld gekauft, das ‚LeaveNoOneBehind‚ uns vom Sound of Peace Konzert gegeben hatte. Die Generatoren und der Treibstoff wurden über Nacht von Freiwilligen von Wrocław nach Lwiw gefahren und sind jetzt im dortigen Lagerhause von ‚Stay Safe‚ angekommen. ‚Stay Safe‚ ist die ukrainische Partnerorganisation der polnischen ‚Folkowisko‚, mit denen wir in der Ukraine seit Beginn des Krieges zusammenarbeiten. Es sind 15 Freiwillige, größtenteils Ukrainer:innen, die krasse Aktionen auch in der Nähe der umkämpften Gebiete durchführen: Menschen rausholen, Menschen versorgen, wenn sie nichts mehr haben und Generatoren bringen, wenn nichts mehr funktioniert. Was Isa, eine polnische Freiwillige von ‚Stay Safe‚ erzählt, erinnert mich sehr an meine Zeit im Mittelmeer beim Retten von Flüchtenden. „Du funktionierst, bist vollgepumpt mit Adrenalin, und merkst erst wenn du wieder raus bist, was da eigentlich passiert ist“ berichtet die Softwareentwicklerin, die sich momentan für die Menschen in der Ukraine engagiert.
Einer unserer Generatoren wird für eine Familie in Odessa fertig gemacht und sollte in 2-3 Tagen dort ankommen. Zusätzlich werden noch Kerzen und Nahrung bereit gestellt. Die Großfamilie sitzt seit Wintereinbruch ohne Heizung im Kalten. Es gibt eine krebskranke Tochter, die gerade Chemotherapie macht, und die, wenn sie nach Hause kommt, etwas Wärme benötigt um zu überleben. Die Adresse habe ich von einer Aktivistin einer anderen Organisation bekommen, die mich um Hilfe gebeten hat.
Unsere erste Station ist ein gut ausgestattetes Regionalkrankenhaus, das als Verteilstation für die kleineren Krankenhäuser in der Region fungiert. Voller Stolz werden uns die medizinischen Einrichtungen präsentiert, das Krankenhaus ist wohl eins der besten in der ganzen Ukraine. Ich unterhalte mich mit einem Herzchirurgen. „ Das Problem ist, dass wir eben neben den normalen Patient:innen auch zusätzlich noch mit dem Krieg zu kämpfen haben“, sagt er. Der Generator würde am Montag weiterverteilt werden, an ein kleineres Krankenhaus, das ihn dringend braucht. Und wir würden noch eine Dankesurkunde von der Klinikleitung bekommen.
Das Leben im Westen der Ukraine wirkt merkwürdig „normal“. An Tankstellen gibt es Cappuccino, Möbelhäuser liegen an der Straße. Ab und an kommen wir an Panzersperren vorbei und wir haben die Luftalarm-App aktiviert – aber das war es dann schon, was äußerlich sichtbar ist. Ein mulmiges Gefühl ist es jedoch manchmal schon.
Wir fahren zu einem Waisenhaus für behinderte Mädchen. Ich habe 100 große Schokoladennikoläuse gekauft für die 83 Kids, und das Heim bekommt zwei Generatoren. Der Direktor empfängt uns. „Es ist nicht Sinn des ukrainischen Systems, Kinder so leben zu lassen“, sagt er fast entschuldigend. „Aber seit Ausbruch des Krieges adoptiert niemand mehr unsere Kinder. Alle sind beschäftigt, Freunde und ihre Familie unterzubringen oder zu versorgen“, erklärt er uns die hoffnungslose Situation. Wir erhalten einen Rundgang durch das Gebäude, was sehr ordentlich und gut organisiert wirkt. Der Geruch von Desinfektionsmittel steigt mir in die Nase. Immer wieder kommen neugierige Kids auf uns zu, doch irgendwie ist mir das hier zu ruhig. „Es gibt eine App, da siehst du wann ein paar Stunden Strom geliefert wird. Wir haben um die 10 Stunden Stromausfall am Tag, deshalb brauchen wir die Generatoren“ erklärt er uns. „Seit dem Krieg 2014 war uns klar, dass Russland nachlegen wird, es war nur unklar wie sie es tun werden. Aber wahrscheinlich würden sie die Energieversorgung attackieren. Deshalb habe ich versucht, hier auf möglichst viele unterschiedliche Energie-Quellen zu setzen“ sagt er, als er uns die Küche zeigt, wo links ein Gasherd und rechts ein Stromherd steht.
Im Speisesaal verteile ich die Nikoläuse auf jeden Tisch. Um 16 Uhr ist hier so eine Art Kaffeezeit und ich frage Waldi von ‚Folkowisko‚, ob wir noch bis 16 Uhr warten können. Er lächelt mich sehr verständnisvoll an, und sagt „Müssen wir dann wohl.“ Ich habe die größten Nikoläuse gekauft, die es gibt, für manche der Kleinen ist das echt viel Schokolade. In machen Augen ist ein freudiges Funkeln zu sehen. Ich komme mir etwas wie der Weihnachtsmann vor. Die meisten der Kinder haben nicht genau verstanden, was die Generatoren bedeuten, aber die Schokolade schmeckt sichtlich allen.
Auf dem Rückweg unterhalte ich mich mit Rose von unserer Partnerorganisation ‚MVI‚, die hier seit März eine Art medizinische Notversorgung betreibt. Wir stimmen überein, dass teilweise die Relationen in Deutschland aus unserer Sicht nicht mehr stimmen. Die gegenwärtige Nabelschau ist kaum auszuhalten, wenn du gleichzeitig die existenzielle Not hier mitbekommst. Es sei mal dahingestellt, ob die Sanktionen gegen Russland richtig oder falsch sind, und natürlich ist es krass, eine drei- oder vierfach so hohe Energierechnung zahlen zu müssen. Aber Armut ist nicht gleich Armut. Noch immer können die allermeisten von uns unsere Wohnungen nach eigenem Ermessen weitgehend warm halten, und noch immer ist der Wohlstand größer als in den meisten anderen Teilen der Welt. Das vergessen wir zu oft, wenn unsere scheinbar „normalen“ Privilegien bedroht sind.
An der Grenze dauert es wieder einmal sehr lange. Grenzen sind ein künstliches Gebilde, doch auf einmal bist du wieder ziemlich sicher, nachdem du das EU Gebiet erreicht hast. Es fängt heftig an zu schneien, ich bin sehr in Gedanken und singe in meinem Kopf das alte Anti-Kriegs-Lied „The Green Fields of France„, besonders die Zeile „A whole generation were butchered and damned…“. Krieg ist total surreal. Er verletzt das Recht auf Leben, es zerstört das Recht auf Gesundheit, es zerstört alles was dir lieb ist. Der Ruf „Nie wieder Krieg“ nach dem 2. Weltkrieg ist kaum noch zu hören die letzten Jahre. Der Krieg frisst eine ganze Generation jungen Lebens in Russland und der Ukraine. Der Krieg hätte nie passieren dürfen, wie in anderen Teilen der Welt auch. Wir merken den Schrecken erst, wenn es auch uns treffen könnte, und stumpfen dann nach einer Weile gleich wieder ab und begeben uns in eine Opferhaltung, die total abstrus ist. Die Inflation steigt ja gerade wieder und die Energierechnung ist zu hoch…
In diesem Sinne: Allen einen fröhlichen 3. Advent!