„Die Bezeichnung ’Genozid’ kam 1944 auf. Damit war die planmäßige Ermordung der europäischen Jüd:innen und anderer Volksgruppen durch die Nationalsozialisten in Deutschland gemeint.“ – Bundeszentrale für Politische Bildung
Die Massengräber im Nordirak sind nach wie vor ein stiller und unheimlicher Zeuge des Grauens, der Verbrechen und des Genozids an der jesidischen Bevölkerungsgruppe durch den sogenannten Islamischen Staat (IS).
Sie kamen, um Frauen als Sklavinnen zu nehmen, zu verkaufen und über Jahre hinweg zu missbrauchen. Sie kamen, um Kinder als Soldaten zu rekrutieren. Sie kamen, um zu foltern und zu morden. 5.000 bis 10.000 ermordete Menschen sind zu beklagen. Sie kamen, um jegliche Existenzgrundlagen der Jesid:innen auszulöschen.
Am heutigen Tag jährt sich dieser Massenmord zum 10. Mal.
Wissen wir davon in Deutschland? Am 19. Januar 2023 erkannte der Deutsche Bundestag in einem gemeinsamen Antrag der Ampel-Parteien und der CDU/CSU die Verbrechen des Islamischen Staates als Völkermord an. In pathetischen Reden bekundete man Solidarität mit den Überlebenden. Was ist daraus geworden, nur anderthalb Jahre später?
Auch wenn in Deutschland der Begriff „Jesid:innen“ mittlerweile bekannt ist, so ist doch vieles unbekannt. Vor dem Einmarsch der Kämpfer des Islamischen Staates lebte die Mehrheit der jesidischen Bevölkerung im nördlichen Irak, überwiegend in Sindschar. Als der IS die Region übernahm, flüchtete die Bevölkerung aus Sindschar durch einen von der YPG aus Rojava freigekämpften Korridor nach Syrien, um den „Säuberungen“ zu entkommen. Noch heute leben in den Lagern Nordiraks über 150.000 Binnengeflüchtete – 80% davon sind Jesid:innen, die vom IS als sogenannte „Teufelsanbeter:innen“ betrachtet werden.
Die jesidische Bevölkerung, die sowohl Kolonialzeit, drei Golfkriege, als auch unzählige bürgerkriegsähnliche Phasen sowie den Krieg gegen den IS überlebte, sehnt sich dringend nach Sicherheit. Jesidische Verbände sprechen von 74 Genoziden in ihrer Geschichte! Die Wunden der letzten Massaker sind noch frisch: 3.000 Menschen werden bis heute vermisst.
Es stellt sich nun die Frage: Sollen die Menschen in den Geflüchtetenlagern in ihre Heimat zurückkehren, oder welche Alternativen haben sie zehn Jahre später? Unter starkem Druck der irakischen Regierung sollen sie dorthin zurückkehren, wo schiitische Milizen das Sagen haben, die meisten Häuser noch immer zerstört sind und es an Gesundheitsversorgung, Bildung und Arbeitsmöglichkeiten fehlt.
Die Perspektive, die sich ihnen ihrer Heimatgegend auftut, ist ein Leben in bitterer Armut mit maroder Infrastruktur, unter der Herrschaft willkürlicher schiitischer Milizen, die teils vom Mullah-Regime in Teheran unterstützt werden. Wahlweise können sie sich von einer Drohne der türkischen Armee in die Luft jagen lassen, die in der Gegend völkerrechtswidrig einen gnadenlosen Krieg gegen die PKK und ihre Verbündeten führt. Weiterhin gibt es vereinzelt aktive Gruppen des Islamischen Staates, wobei Tausende ehemalige Kämpfer aus den syrischen Gefängnissen gerade auf dem Weg zurück in den Irak strömen. Und wem das womöglich nicht reicht, der hat noch die kurdischen Peschmerga – Streitkräfte verschiedenster, untereinander verfeindeter Gruppierungen und anderer Milizen zur Auswahl, die mit der irakischen Zentralregierung um die Vorherrschaft in der Region ringen.
Gewalt, Armut, Perspektivlosigkeit?
Das ist aber noch nicht alles: Während das ähnlich zerstörte Mossul überwiegend wieder aufgebaut wurde, ist die Stadt Sindschar nach wie vor in einem dürftigen Zustand. UNITAD, die UN-Mission, die wesentliches für die Dokumentation der IS-Verbrechen getan hat, wird sich im Herbst aus dem Irak verabschieden. Jesidische Organisationen fordern einen Prozess über die Kriegsverbrechen, doch die Forderung ist so weit weg von der Realität, wie das Demokratieversprechen der USA nach dem 3. Golfkrieg.
Es gab genügend abscheuliche Anschläge in Europa vom Islamischen Staat, die viele Todesopfer forderten. Es ist dennoch kein Vergleich mit dem Grauen im Irak – und das wird oft in Deutschland vergessen. Nicht alle Menschen in den arabischen Ländern sind durchgeknallte, islamische Extremisten. Das müssten gerade wir leicht wissen, die wir doch immer wieder darauf beharren, dass nicht alle Deutschen auch gleich Nazis gewesen wären.
Diejenigen, die am meisten unter den Fundamentalisten leiden, sind die Menschen in Syrien und im Irak. Halwest, die jahrelang als jesidische Sklavin von einem Mann zum anderen verkauft wurde. Oder Mohammed, 8 Jahre, der bei jedem fremden Auto, das durch sein Dorf fährt, zusammenzuckt, aus Angst, es könnte eine Bombe sein. Oder Binar, der mit 13 Jahren als Kindersoldat vom IS gefangen genommen und gezwungen wurde, für eine Sache zu kämpfen, die er nicht einmal ansatzweise verstand. Bayan, Dilnaz, Tisk….alle haben sie ihre eigenen, grausamen Geschichten zu erzählen, jede erschütternder als die andere.
Wenn Iraker:innen über die Zeit nach dem IS 2018 reden, sprechen sie von „Befreiung“ – jedoch ist damit kein freies Gefühl verbunden. Wie frei kannst du in einem Land leben, in dem das Überleben täglich massiv bedroht ist und die Perspektiven von schwarz über düster bis dunkelgrau reichen?
Trotz der hohlen Solidaritätsbekundungen im Januar 2023 im deutschen Bundestag hält es unsere Regierung nicht davon ab, gefährdete Jesid:innen in den Irak abzuschieben. Im Mai 2024 wurde ein „Migrationsabkommen“ mit der irakischen Regierung abgeschlossen, das Abschiebungen erleichtern soll. Seitdem sind davon Zehntausende jesidische Menschen in Deutschland bedroht oder wurden längst in den Irak abgeschoben. Das Versprechen vom Januar 2023: vergessen, gebrochen und damit bedeutungslos!
Deutschland als Verteidiger von Menschenrechten und Humanität?
Nicht nur wegen der doppelzüngigen Politik gegenüber den Jesid:innen verliert Deutschland immer mehr an Glaubwürdigkeit und Ansehen. Wer massenhaft Waffen in Krisengebiete exportiert, seinen Wohlstand auf einer ungleichen Weltordnung aufbaut, weiterhin Kolonialprojekte weltweit unterstützt, Zäune und Mauern errichtet, um seinen ungerechten Reichtum zu schützen, und Menschen ins Grauen deportiert, der sollte lieber – als Mindestanforderung – schamhaft schweigen, anstatt mit Schlagworten wie „feministische Außenpolitik“ oder „Menschenrechtsorientierung“ um sich zu werfen.
10 Jahre Völkermord an den Jesid:innen. Ein Tag der Trauer – der von vielen in Deutschland unbemerkt und unbeachtet bleibt. Unsere eigene Geschichte lehrt uns, Solidarität mit diskriminierten Menschen zu üben, so lange wie die Gefahr existent ist.